Wenn Unternehmen krampfhaft versuchen innovativ zu sein, obwohl sie auf Nachfrage gar kein Problem haben. Wenn deshalb nur noch Produkte mit Nachfolgeinnovationen auf den Markt gebracht werden. Und wenn wir durch diese Lösungen mehr Probleme schaffen, als wir dadurch lösen: Dann ist es Zeit, über die Kraft der Probleme zu sprechen.

Die Reise führte nach Wien

Der Verband der Marken- & Kommunikationsstrategen in Österreich beschäftigt sich 2017 in verschiedenen Veranstaltungsformaten mit der Kraft von Problemen. Die Inspiration zu diesem Beitrag habe ich im Brand Planning Workshop “Go for the problem, not the solution” mit Jane Cantellow und Lucas Conte (Saatchi & Saatchi) sowie auf dem Symposium “The Power of Problems” in Wien bekommen.

Die Rolle der Versicherung neu definieren

Jane & Lucas waren mit den Teilnehmern auf der Suche nach dem relevanten Problem, das sich hinter den Business- und Kommunikationszielen der Auftraggeber verbirgt. So diskutierten wir beispielsweise den Case von Direct Line. Das identifizierte Problem der Werber für die britische Direktversicherung: Wenn der Preis zum gefühlt einzigen Kaufargument wird, gibt es keine Differenzierung vom Wettbewerb – die Marktanteile sinken. Die Lösung des Problems war die Einsicht, dass Menschen neben dem günstigen Preis vor allem eins wollen: Schnell einen Schaden ersetzt bzw. repariert zu bekommen. Ein Umdenken vom Preis zur Leistungserfüllung – der Performance im Service – war nötig. Dafür wurde das neue Markenversprechen (“we’re on it”) mit einer Kampagne eingeführt, die u.a. den IPA Effectiveness Awards gewann und Direct Line als extrem kunden- und serviceorientiert positionierte. Die Botschaft an uns: Wer effektive Kommunikationslösungen entwickeln will, braucht starke Probleme. Und wer sich Werbung von Versicherungen anschaut, der erkennt die schwachen Lösungen, die eben kein Problem adressieren.

Innovationen brauchen ein Problembewusstsein

Auf dem Symposium wurde die Frage aufgeworfen, ob Unternehmen ständig innovativ sein müssen. Harry Gatterer, Leiter des Zukunftsinstituts in Österreich, verneint das entschieden und verweist auf den Innovationszyklus und den damit verbundenen, passenden Zeitpunkt. Direct Line war innovativ als sie die Kategorie der Direktversicherer im Markt bekannt machten und mussten es einige Jahre später wieder sein: Als Marktführer mit sinkenden Anteilen und einer Preistransparenz durch Suchmaschinen. Es war wieder an der Zeit für eine Innovation.

Doch Gatterer wundert sich, wie viele Unternehmen Lösungen entwickeln, ohne ein Problem zu haben. Seine Kritik: “Viel zu viele Lösungen, für viel zu wenig echte Probleme”. TEDx-Sprecher Niki Ernst, ergänzt am Beispiel des Automobilsektors, dass der Tellerrand des Problembewusstseins zu klein ist. Statt radikaler Probleme, werden Produktverbesserungen angegangen: Scheininnovationen (u.a. Design-Facelifts), Anpassungsinnovationen (u.a. Tuning), und Verbesserungsinnovationen (u.a. Bordentertainment) bestimmen die Ankündigungen der Hersteller. Dass es auch anders geht, zeigt Tesla: Sie verstehen das Auto im Kern als Box, als Computer mit Fahrfunktion.  So werden die wirklichen Bedürfnisse im Kontext der Mobilität adressiert – bspw. Fahrsicherheit mittels autonomen Fahrens.  Dafür muss man jedoch seinen Betrachtungswinkel ändern: Vom Autohersteller zur Data-Company. Mit einer relevanten Problemstellung kommt ein Markt in Bewegung – die Kraft der Probleme – ein Zündstoff für die wirklichen Innovationen unserer Zeit.

Ernüchterung und Hoffnung für die eigene Arbeit

Der Tenor des Symposiums war begeisternd und motivierend: es lohnt sich, nach den wirklichen gesellschaftlichen Problemen zu suchen; einmal gefunden, entstehen starke Lösungen, mit der Kraft, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Spinnt man jedoch den Gedanken weiter, so stellt man schnell fest, dass die Suche nach kraftvollen Problemen, mit Aufgaben endet, die kaum mehr zu lösen sind. Es sind die großen Fragen unserer Zeit, rund um Mobilität, Konnektivität, Armut, Energiewende und Populismus, um nur Einige zu nennen. Für meinen Geschmack etwas zu große Problemfelder, für die Beantwortung eines Kundenbriefings zur Vermarktung von Produkten, Ausbildungsstellen oder zur Schärfung des Markenprofils. Doch dem entgegen steht die Hoffnung, dass man mit der Einstellung eines Problemspürhundes, eben jenes Problem und damit das menschliche Bedürfnis entdeckt, mit dem ein Tauschgeschäft zu machen ist: Der Mensch ist für diese Lösung bereit, mit Geld, Daten oder Aufmerksamkeit zu bezahlen. Die Erkenntnis, dass die Zahlungsbereitschaft der Menschen für relevante Problemlösungen höher ist, weil der Schmerz stärker, sollte Ansporn für uns alle sein. Und das macht Hoffnung, dass Produkt-, Service- oder Kommunikationslösungen in Zukunft mehr Sinn und Nutzen für die Gesellschaft bringen. Doch wie findet man sie denn, die wirklich wichtigen Probleme unserer Zeit?

Das Suchwerkzeug für starke Probleme

Das Handwerkszeug für das Finden eines relevanten Problems wurde in Wien ausführlich erläutert: Suchfelder sind zum einen der Mensch (weil er bspw. etwas nicht tut, weiß, fühlt), die Kategorie (weil bspw. ein Vorurteil alle Marktteilnehmer hemmt), die Marke (weil bspw. das Vertrauen oder Relevanz der Marke zu gering sind) oder das Produkt (weil bspw. die Technologie austauschbar ist). Die Technik ist ganz einfach: Fragen & Hinterfragen. “Warum”? Und keine absurden Fragen scheuen. Regelmäßig den Betrachtungswinkel und das Suchfeld ändern. Klingt einfach, ist jedoch in Summe die wohl größte Aufgabe für die Wissensgesellschaft. Dabei helfen können Design-Thinking-Abläufe und Methoden, wie in Wien Hugo Giralt erläuterte. Damit stellte er sich auch deutlich gegen die heute als so störend wahrgenommene Meeting-Kultur und sprach sich für mehr Prototypen im gesamten Innovationsprozess aus.

Die Probleme vor lauter Lösungen übersehen.

Zum Abschluss möchte ich die Gedanken noch mal auf den Aktionismus lenken. Der Warnruf in Wien war deutlich: Wir sollten dringlichst aufhören, Lösungen ohne Problem zu entwickeln. Denn das schafft nur eins: Noch mehr Probleme. Deshalb  sollte unsere ganze Kraft, der Suche nach den wichtigen Problemen dienen. Die Lösung ist dann, da waren sich in Wien alle einig, ein Kinderspiel.